KNIGGE
Charlotte Klobassa
March 27 – May 17, 2024

























Wer kennt ihn nicht – den Knigge? Und wer denkt dabei nicht direkt an eine Reihe von Benimmregeln, die oft wie eine eigene Geheimsprache wirken: Gabel auf acht und Messer auf vier: Bedeutet man macht Pause. Gabel und Messer beide auf vier Uhr hingegen: Bedeutet man ist fertig mit dem Essen. Ein paar Zentimeter mehr oder weniger können darüber entscheiden, ob man in eine peinliche Situation gerät – oder nicht. Tatsächlich ging es Adolph Knigge in seinem 1788 veröffentlichten Hauptwerk Über den Umgang mit Menschen aber gar nicht nur um Tischmanieren, Pünktlichkeit und Dresscodes, sondern viel grundlegender um ein moralisches Miteinander, zentralen Werten der Aufklärung folgend: Vernunft, Humanität und Toleranz.
In ihrer Malerei verhandelt Charlotte Klobassa auf bildnerischer Ebene solche Wertesysteme, indem sie mit Gegensätzen spielt, die nicht nur in der Kunst, sondern auch in sozialen Interaktionen von Bedeutung sind: Wollen versus Nichtwollen, Bewusstheit versus Unbewusstheit, Kontrolle versus Kontrollverlust, Respektlosigkeit versus Respekt, Ergriffenheit versus Distanziertheit.
Auf den ersten Blick wirken die neuen Bilder in ihrer Ausstellung Knigge in der Galerie Zeller van Almsick wie in einem Schwung mit großer Geste gemalte Abstraktionen. Tatsächlich handelt es sich aber um minutiös, über mehrere Tage in akribischer Detailarbeit gefertigte Abbilder des pathetischen Pinselstrichs. In der westlichen Kunstgeschichte gilt die geniale Geste des (meist männlichen) Malers als Ausdruck tiefer Gefühle. Dieser Strich sitzt dann für alle Ewigkeit großmeisterlich und unhinterfragt auf der Leinwand, denn es ist ja klar: Es handelt sich hier um einen Geniestreich. Indem Klobassa solche gestischen Pinselstriche in einem technisch fokussierten Malprozess nachvollzieht, spürt sie dieser patriarchalen Geste nach und entwickelt auf deren Grundlage eine ganz eigene Formsprache.
Vorlage für diese Gemälde sind schnelle Tusche- oder Kreidezeichnungen, die Klobassa auf Papier fertigt. Aus diesen wählt die Künstlerin dann einzelne Blätter oder Schwünge aus, die sie auf der Leinwand vergrößert darstellt. Während des langsamen Malprozesses konfrontiert sie sich selbst so mit formalen Fragen, die während des affekthaft, schnellen Zeichnens nicht passieren. Zahlreiche kleine Konflikte, Entscheidungen und Bezüge verhandelt Klobassa auf diese Art innerhalb eines Systems, das auf den ersten Blick wie eine klare Ansage wirkt. Der Imperativ einer*eines Einzelnen wird zum kollektiven Stimmengewirr.
Solch ein gleichzeitiges Bestehen einander widersprechender Meinungen hat es auf der gesellschaftlichen Ebene gegenwärtig schwer. Stattdessen geht es um eindeutige Positionierungen. Gleichzeitig dominieren Männer die politische Bühne, für die die simpelsten Benimmregeln keine Rolle mehr spielen. Sie verunsichern das Fundament des moralischen Umgangs im Zusammenleben. Der Glaube – sei es an Gott, einen Guru, die Natur, das Nachtleben oder etwas anderes Höheres – kann Halt geben.
Zuflucht in einer temporären, mobilen Glaubensarchitektur bietet auch die Installation in Klobassas Ausstellung. Mit den antiken Säulen erinnert die eigens für die Schau angefertigte Textilarbeit Common Ground an einen uralten Tempel aus Stein. Die Fragilität des Stoffes und die Zeltkonstruktion konterkarieren diesen Eindruck von Beständigkeit und Dauer. Ein kleiner Windstoß könnte die Behausung umwehen. In der Enge des Zelts finden nur wenige Menschen gleichzeitig Platz. Sie erinnert daran, dass wir mit den neuen Glaubenssätzen, die wir uns heutzutage schaffen, meist vornehmlich um uns selbst kreisen, anstatt neue Formen der Gemeinschaft zu entwickeln.
Trotzdem lässt es sich in der Wärme des Zelts träumen – von solchen neuen Verbünden. Von neuen Möglichkeiten, gemeinsam in der Welt zu sein, vielleicht von einem zeitgenössischen Knigge. Im Halbschlaf, in diesem flirrenden Übergangszustand vom Wach- in den Traumzustand, kommen einem oft die besten Ideen. Realität und Fiktion überlagern sich in ihm auf eigenartige Weise.
Indem Klobassa die Sprache des expressiven Pinselstrichs in ihren Arbeiten akribisch nachvollzieht, befragt sie dessen Aufbau und untersucht, ob sich aus diesem nicht auch etwas ganz anderes sagen ließe. Zwar ist die malerische Geste – auch wenn sie mit einem kleinen Pinsel vollzogen wird – immer noch nach bestimmten Gesetzen organisiert, aber trotzdem entwickelt Klobassa aus ihr eine neue Art des künstlerischen Sprechens. Eine Art des kollektiven Ausdrucks, der keiner aggressiv-invasiven Setzung entspricht, sondern eher mit einem niemals abschließbaren Prozess des Rezipierens, Reagierens und Anpassens vergleichbar ist. Ein Sprechen, das mehr ein Austausch ist als ein Monolog. Das nicht nur das Außen, sondern auch die Sprechenden selbst verändert.
Alicja Schindler, 2025