REALM OF OBJECTS
KAY WALKOWIAK
NOV 28, 2019 - JAN 11, 2020
Der 1948 von Le Corbusiers entwickelte Modulor ist ein anthropometrisches Proportionssystem, das zwischen zwei inkompatiblen Längeneinheiten – der angelsächsischen, auf Fuß und Inch basierenden, und der französischen, metrischen – zu vermitteln sucht. Der Modulor, eine Kombination von Körpermaßen, der Fibonacci-Reihe und dem Goldenen Schnitt, stellt zudem den Versuch dar, der Architektur eine am Menschen orientierte, universell anwendbare mathematische Ordnung zu geben. In ihren harmonischen Proportionen steht die vom Modulor erzeugte Geometrie für eine Gestaltungsphilosophie, die Gebäude aus den Bedürfnissen ihrer Bewohner heraus entwickeln will. In der Unité in Marseilles, Le Corbusiers berühmter „Wohnmaschine“, wurde der Modulor konsequent angewandt: Der Mensch steht nicht nur funktional im Mittelpunkt, sondern wird selbst zum Maßstab aller Dinge. Dieser Mensch ist allerdings kein Individuum, sondern ein universalistisch gedachtes (männliches) Subjekt, das westliche Gestaltungsnormen verinnerlicht hat und sie idealtypisch repräsentiert.
Kay Walkowiak hat mit Untitled (Eternal Beauty) eine Reihe von geometrischen Rasterstrukturen aus Stahl geschaffen, die die Proportionen des Modulors aufgreifen. Die von einem Quadrat umschlossenen Flächen aus Vertikalen und Horizontalen verkörpern die Idee der „reinen Form“ in ihrem Absolutheitsanspruch. Den Materialisierungen dieser mathematischen Abstraktion fügt Walkowiak jedoch ein figuratives Element hinzu: Die metallenen Raster stehen jeweils auf einer Schildkröte aus Steinguss. Im Hinduismus gilt die Schildkröte Akupāra (Sanskrit: अकूपार) als weises, den Menschen überdauerndes Tier und Trägerin der Welt. In China und Japan stehen Grabsteine auf Schildkröten, denn diese symbolisieren den Übergang zwischen den Welten. Die corbusier’sche Harmonielehre als Paradigma zeitloser modernistischer Ästhetik balanciert gewissermaßen auf einem Sockel ostasiatischen Denkens: Zwei inkompatible Systeme suchen statisch einen Kompromiss. Auch im Taoismus gibt es das Bestreben, über Architektur Harmonie und ein entsprechendes Energiefeld zu erzeugen. Geometrisch gestaltete Fenster markieren beispielsweise eine Schwellenarchitektur, die Geister abhalten soll. Rasterstrukturen wie die nach Corbusiers Masterplan oder vom Feng Shui beeinflusste sind letztlich aber vor allem kulturell geprägte Bedeutungsträger – deren jeweiliges Selbstverständnis im lokalen Transfer schwindet und von neuen Konnotationen überlagert wird.
In seiner Ausstellung Realm of Objects setzt Kay Walkowiak seine Beschäftigung mit den Auswirkungen des groß angelegten Projekts Moderne, dessen kolonialen Gesten sowie den Transformationen, denen es in den Ländern des globalen Südens unterliegt, intensiv fort. Eine ursprünglich universell gedachte Formensprache erfährt Neucodierungen, wird mit lokalen Traditionen amalgamiert oder gar von auf anderen Prämissen basierenden Philosophien und Denkansätzen revidiert. „Die“ Moderne präsentiert sich als ausdifferenziertes, plural strukturiertes Konzept, das als Weltformel früh am eigenen Anspruch gescheitert ist.
Dass haben zu ihrem Bedauern auch jene Ikonen der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts erfahren, die mittlerweile nicht mehr in Museen oder Privatsammlungen zuhause sind, sondern ein mediokres Dasein in winzigen Wohnungen, Geschäften oder Friseursalons fristen. Einst die Stars der internationalen Kunstwelt, sind sie in Hongkong gelandet, wo sich scheinbar niemand für ihr glamouröses Vorleben interessiert. Skulpturen von Alexander Calder, Sol Le Witt, David Smith, Constantin Brancusi und Max Bill monologisieren in dem Video Anonymous Objects über ihr Leben, wüten gegenüber ihren Schöpfern und verzweifeln angesichts ihres fragwürdig gewordenen Status als Repräsentanten eines westlichen Kanons der Kunst. Das einst auratische Objekt, das in der ersten Person Singular sein wechselvolles Schicksal rekapituliert, wurde auf Auktionen ersteigert oder weit unter Preis verkauft. Es fühlt sich verraten und verkannt; schutzlos jenseits der sicheren Wände des White Cubes. Doch nicht nur der Ortswechsel hat seinem Selbstbild schweren Schaden zugefügt. Wie konnte es sein, dass alle der abstrakten Form eine allgemeine Lesbarkeit zugetraut haben? Sie als selbsterklärend inszeniert haben? Die Kamera schweift an endlosen Hochhausfassaden entlang, blickt in enge Gassen, verharrt auf dem verblassten Glanz vergangener Zeiten. Die Enge, Improvisierte, auch Ärmliche passt so gar nicht zu den Skulpturen, die offenbar im falschen Biotop zuhause sind. Sie müssen mit einem anderen Konzept von Raum und auch von Zeit zurechtkommen: Statt der westlichen Idee von Zeitlosigkeit herrscht eine Vorstellung von Entstehen und Vergehen und damit auch eine gewisse Akzeptanz stetigen Verfalls. Sie dürfen auf dem Balkon stehen, im Korridor warten oder auf einem Tisch in der Ecke verweilen – wie irgendwo Abgestelltes, das irgendwann Teil der Einrichtung geworden ist.
Dieser Prozess der Ent-Kunstung, im Stile einer „novel of circulation“ erzählt (ein Genre, das vom Schicksal von Dingen, die von einem Besitzer zum nächsten gereicht werden, aus Perspektive des Gegenstands berichtet), ist ein prägnantes Beispiel einer Migration der Form jenseits des Exotismus. Das fremde Objekt ist kein spektakuläres Werk, sondern einfach nur ein abstrakt geometrisches Etwas ohne nähere Funktion. Ein Ding unter Dingen. In diesem Sinne kann auch der Affe in den Schwarzweiß-Fotografien der Serie Rituals of Resistance Skulpturen in Beschlag nehmen und, auf geometrisch bunten Konstrukten sitzend, Kunstwerke zu Sockeln degradieren, auf denen er als eigentliches Subjekt thront. In einer Tempelanlage aufgenommen, werden die Skulpturen zum bloßen Relikt, zur Staffage. Und da sie zwangsläufig stumm bleiben, interessiert es auch kaum, welche Ideologie der Idealform ihnen einst eingeschrieben sein mag. Sie haben in dem Bild, das sich uns bietet, nicht nur ihre Farbe verloren, sondern auch jenen Kontext, den das Projekt Moderne braucht, um sich wie einst hegemonial zu gebärden. Doch das ist kein Verlust. Der revidierte Blick fördert eine andere Schönheit zutage, die in der Differenz einander bedingender Gegensätze liegt; eine andere Lektüre, die nicht ausschließt, sondern die Kulisse und damit auch die Perspektive wechselt.
Text: Vanessa Joan Müller